Teju Cole: Blinder Fleck

 

2011 erlebte Teju Cole eine Zeit vorübergehender Erblindung.
Danach stellte sich die Frage des Sehens neu, und er begann dieses fotografische Projekt.
Die Bilder in seinem neuen Buch sind Dokumente von Jahren des Unterwegsseins: der Schatten eines Baumes in Upstate New York. Ein junger Fremder im Kongo. Eine seltsame Konstellation in einem Berliner Park.
Wir sehen, was er sah, was seine Gedanken anstieß, während sich kurze Texte wie ein Voice-over über die Bilder legen – eine innere Stimme, konkret oder abstrakt, prosaisch oder rätselhaft. Mehr als 150 Fotografien und Texte verbinden sich zu einem lyrischen visuellen Essay, der etwas sichtbar macht, was das Auge nicht erfasst.
Teju Cole verbindet Fotografien und kurze Texte zu einem lyrischen visuellen Essay – Mit einem Vorwort von Siri Hustvedt.

 

(Textprobe:)
NÜRNBERG
Im Frühjahr 1507 kehrte Albrecht Dürer von seiner zweiten Italienreise
zurück. Er hatte Temperastudien Leonardos gesehen und begeisterte sich
dafür, wie dieser in der Darstellung von Falten Gestalt, Bewegung, Wind
und Licht spürbar machte. Tuchfalten sind Stoff, der über sich selbst nachdenkt.
Unter seinem eigenen Druck, durch Schub oder Zug wird Stoff zur
Topografie. Stoff, der sich einwärts kehrt, blickt einem Teil seiner selbst entgegen
und sieht Innen als Außen.
Eine Gewandstudie Dürers aus dem Jahr 1508 zeugt vom Einfluss einer
rund zwei Jahrzehnte älteren Draperiestudie Leonardos. Falten, »valten«:
zusammenlegen, auch wieder und wieder, eine Berührung, eine Mannigfaltigkeit.
Geknittert, plissiert, gerafft, gekniffen, fallend, wulstig, verdrillt ergibt
Stoff eine regelhafte Unregelmäßigkeit, die einer Wasserfläche gleicht, Luftströmen,
Gott in sichtbarer Form. Der Mensch ist das Göttliche im Gewand der Haut. (…)
In Nürnberg sah ich, einen Steinwurf nur von Dürers Haus entfernt, Strahlen der Sonne
rund acht Minuten nach Beginn ihrer stellaren Reise die Falten im Stoff zwischen
meinem Zimmer und der Stadt nachzeichnen.

 

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Teju Cole: Blinder Fleck

Übersetzung: Uda Strätling
2018
Sprache: Deutsch
352 Seiten mit 150 farbigen Abbildungen, 226 mm, gebunden
– Hanser Berlin –
38.00 EUR       
    

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