Tristan Marquardt: scrollen in tiefsee

 

Auf einer Zugfahrt im Herbst 2012, wenige Monate vor dem Erscheinen meines ersten Gedichtbands, stand ich vor einem Problem.
Ich wollte in einem Text „Schatten“ sagen, meinte aber eine bestimmte Art von Schatten, eine, die vielleicht nur die Wahrnehmung kennt. Ich begann, verschiedene Formen von Schatten zu unterscheiden und beschreiben, Schichten von Dunkelheit, Schattenheit.
Ich begann mich zu fragen, ob es so etwas wie Wahrnehmungswahrheit gibt.
Nicht vage zu umkreisen, sondern festzuhalten. Etwas, das genau so sein kann, aber auch anders sein könnte.

scrollen in tiefsee, mein zweiter Gedichtband, ist Fortführung, Zwischenstand und Dokumentation der Arbeit an den Fragen der Wahrnehmung, die mein Schreiben seither umtreibt. Sie werden aufgeworfen und eingefangen, kommen herein, stellen sich und werden gestellt.
Wo die Straße aufreißen, um das beendete Skype-Gespräch im Kabel zu finden und zu löschen, wo man log? Wann zieht Licht den Dingen ihre Farben an, wann seine? Wie holt man einen Schock aus einem Körper und wo bringt man ihn hin? Und ist der Empfang bei gutem Wetter gefühlt besser?
In einer Ausfächerung von Blicken und Begriffen, Handlungen und Behandlungen konzentriert sich die Sprache mal in einem
Parzival-Lexikon, oszilliert mal zwischen Tag- und Nachtzuständen oder folgt Händen und Augen im Netz. Dazwischen setzen sich die kataloge fort, die mit den Schatten begannen.
– Tristan Marquardt

 

im posteingang. unnerreichbar für den körper mails,

die der blick abholt. vier gewissen versinken in meinem,
zwei finger scrollen in tiefsee. kein all, das dem andern
gleicht, und keines sich selbst. es ist spät, mails sind
rückschluss auf nichts. als hieße schreiben, es schneit.
stimmen bei skype. strecke wird dauer. kein tool gegen
die grobheit, nie auf das, was man sieht, zu schauen. echtes
verlangen nach echten hirn-w-lan-schranken. ich träume,
das beendete gespräch schläft in einem endlosen kabel.
ich geh raus, reiß die straße auf, um zu löschen, wo ich log.

Tristan Marquardt bei s p e r r s i t z. Gegenwart im Gedicht. Platz für Poesie bei Literatur Moths, die jedes Vierteljahr stattfindet und von Tristan kuratiert wird: Junge Lyriker stellen sich und ihre Gedichte vor.


Tristan Marquardt, geboren 1987 in Göttingen, lebt in München. Er ist Mitglied des Berliner Lyrikkollektivs G13. Seit 2012 kuratiert er die Lesereihe meine drei lyrischen ichs in München, seit 2017 leitet er gemeinsam mit Tim Holland und Hannes Munzinger die Verlagsdependance hochroth München. Er ist Mitinitiator der Initiative Unabhängige Lesereihen und zahlreicher Veranstaltungsformate in München. Gemeinsam mit Jan Wagner gab er die Anthologie Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen, Hanser 2017, heraus.
Sein Lyrikdebüt das amortisiert sich nicht erschien 2013 bei kookbooks.

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Tristan Marquardt: scrollen in tiefsee

Gedichte
Reihe Lyrik   #62
2018
Sprache: Deutsch
80 Seiten, 21 cm, kartoniert
– KOOKBOOKS –
19.90 EUR

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